5) Die Kollegiumskirche
Santa Maria Assunta
Etwas weiter, auf der Piazza della
Libertà, befindet sich
Casoles bedeutendster Sakralbau: die Kollegiumskirche Santa Maria (Abb. 4). Die
Konstruktion, die wir heute sehen, zeigt gut die Spuren des Wandels innerhalb
der Jahrhunderte. Von der einfachen, 1161 geweihten Kirche (laut Steintafel der
im rechten Querschiff befindlichen Kapelle) blieb nur das Fundament von drei
Apsen im Boden der heutigen Kirche bestehen. Die seitlichen Apsen sind aus dem
dicken Mauerwerk freigelegt worden wie in der Kirche von Mensano und anderen
Kirchen der Diözese von Volterra. Die Basen und Kapitelle der Säulen, welche
die Kirche in drei Schiffe teilten, wurden bei dem Umbau der Kirche entfernt und
für die kleine, nahegelegene Kirche St. Niccolò verwendet. Außerhalb weisen
die Türen einen dekorativen Bogen auf, wie er auch in anderen Kirchen Val d’
Elsas üblich ist. Neben den Türen blieb auch die ganze Originalfassade trotz
der Vergrößerung erhalten und kam erst bei den Restaurierungsarbeiten nach dem
Zweiten Weltkrieg zum Vorschein. Die Fassade hat eine sonderbare Form, weil in
das linke Seitenschiff der Glockenturm integriert ist. Dies ergibt eine
asymmetrische Form. Der massive Steinturm ist durchbrochen durch drei
übereinander befindliche Fenster an jeder Seite, deren Größe mit der Höhe
zunimmt.
Im Inneren befindet sich rechts nahe der Apsen eine kleine
romanische Tür, während an der linken Seite die originalen romanischen Fenster
zu sehen sind. Im 14. Jahrhundert wurden an der Kirche tiefgreifende
Veränderungen vorgenommen. Die Säulen, welche die Kirchenschiffe teilten,
wurden entfernt und die Kirche mit einem großen Querschiff ausgestattet,
welches in seiner Mitte den großen Zentralraum bildete und an seinen jeweiligen
Enden kleinere Kapellen besaß. Dies folgt dem Schema für Konventkirchen.
Das große, aus dem Zusammenschluß der drei vormaligen
Kirchenschiffe bestehende Kirchenschiff wurde offenbar auch hinsichtlich der
Fassade erhöht.
Wenn wir die Kirche von der Haupttür aus betreten, befindet
sich rechts das aus weißem Marmor gestaltete Weihwasserbecken (vermutlich 15.
Jahrhundert), das auf einem verzierten Säulenfuß steht. Die Kopie auf der
linken Seite ist modern und stilisiert die Schmuckmotive. Rechts neben dem
Weihwasserbecken stoßen wir auf eine kleine mit einem schmiedeeisernen Gitter
verschlossenen Kapelle, in der sich ein marmornes Taufbecken befindet. Im
unteren Teil ist eine Inschrift zu sehen sowie ganz unten die Jahreszahl 1585.
Oben auf der hexagonalen Säule, also im Mittelpunkt des Taufbeckens, befindet
sich eine kleine Skulptur aus weißem Marmor, die Johannes den Täufer darstellt.
Sie wurde vermutlich später hinzugefügt, moeglicherweise aber auch noch in den
letzten Jahren des 16. Jahrhunderts.
Das Kirchenschiff weiter entlanggehend, findet man an der
rechten Wand ein Ölgemälde, das den Tod des St. Antonius darstellt. Der untere
Teil zeigt den sterbenden Heiligen, dem drei Brüder beistehen, der obere Teil
die Madonna mit dem Kind, einen Engel sowie die Heilige Katharina von Alexandria.
Dies ist vermutlich eine Arbeit von Giovanni Paolo Pisani (Siena 1574-1637),
einem zweitrangigen Künstler aus der Sieneser Kunstgeschichte des 16./17.
Jahrhunderts, von dem nur wenige Werke bekannt sind. Pisanis Gemälde ist
wahrscheinlich im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts entstanden, denn der
Einfluß Alessandro Casolanis, der bis 1607 tätig war, ist im unteren Teil des
Gemäldes deutlich spürbar, besonders in der Behandlung der Gesichter und der
hellfarbigen Kleidung.
Danach ist ein wunderschön gewölbter Altar aus polychrom
glasierter Terrakotta zu sehen, umrahmt mit behängten Früchten und Gemüse,
das zwei Amphoren entquillt. Dargestellt in einem Hochrelief ist die Anbetung
durch die Hirten sowie, in einer Lünette, die Verkündigung.
In der Predella sind Szenen aus dem Leben der Jungfrau Maria
zu sehen. An den Seiten befinden sich zwei nicht identifizierte Wappen.
Weiterhin ist auf der rechten Seite die „Madonna mit St.
Domenico" und dem „Heiligen Bernhard" zu betrachten, ein Werk, das
von Antonio Ridolfi signiert und von 1856 datiert ist.
Eine reiche Dokumentation belegt die verschiedenen Phasen des
Auftrags und der Ausführung des Werkes. Zusammen mit der „Unbefleckten
Empfängnis" von Amos Cassioli auf der gegenueberliegenden Seite wurde
Ridolfis Werk zu jener Zeit gemalt, als beide jungen Künstler an dem „Institut
der Schönen Künste" in Siena studierten.
Unter den bedeutendsten Zeugnissen des alten Zustandes der
Kollegiatskirche ist das Grabdenkmal des Bischofs Tommaso d’ Andrea (Abb. 5),
welches in seiner Originalgestalt am Ende der rechten Wandseite zu finden ist.
Tommaso d’ Andrea, Bischof von Pistoia ab 1285, starb 1303.
Kurz danach regte seine Verwandtschaft den Bau einer Gruft in Casole an, das der
Heimatort der Familie war.
Das Denkmal weist in seinem architektonischen und
skulpturalen Stil auf die ersten Jahre des 14. Jahrhunderts. Der Name des
Sieneser Bildhauers Gano ist in der Inschrift des Gesimses am Boden bewahrt. Auf
einer Marmortafel ist eine Widmungsinschrift angebracht, welche das Todesdatum
des Bischofs am 30. Juli 1303 festhält sowie die Namen seines Bruders Giacomo (oder
Iacopo) und Sozzos, dem Auftraggeber der Gruft. Auf der Schriftrolle, die der
Verstorbene in Händen hält, liest man eine strenge Warnung für den am
Grabmonument Verweilenden:
„In me cognoscere qui transis quam breve posse.
Est hominis potui;
Dum quod ipse fui
Sed modum nil possum; quia tantum pul vis et ossu
sic tu nil poteris quando sepulturus eris
ergo pro posse; bene fac cum sit tibi posse."
Das Casolener Denkmal besitzt eine gravierende Neuerung
innerhalb der italienischen Grabskulptur auf, es ist das erste Beispiel für ein
Denkmal, das von Sockelwerk gestützt, sich stolz in die Wand einfuegt. Sie
führt einen Typus von Grabdenkmalen ein, die sich steigender Beliebtheit im
Laufe des Jahrhunderts erfreute. Gleichzeitig gibt es in dieser Arbeit viele
Elemente, die eine stilistische Kontinuität seit der zweiten Dekade des 13.
Jahrhunderts belegen und der Tradition Arnolfo di Cambios folgen: die zwei
Acolyten, die Engel, welche die Drapierung halten, die Büste Christi an der
Spitze des Tympanons, das Fresko, das darunter die Wand schmückt, alle die
unterschiedlichsten Elemente, die einen den italienischen Bildhauern vertrauten
Symbolismus herstellen, welcher die Hoffnung auf Erlösung der Verstorbenen
thematisiert.
Die Beziehungen der verschiedenen Teile des Denkmals sind
sicher nicht konstruiert, um den Eindruck von Monumentalität zu erzeugen.
Bischof Tommaso d’ Andreas Denkmal schafft einen wichtigen Bezugspunkt für
die Sieneser Skulptur des frühen 13. Jahrhunderts und kann mit anderen Werken
hinsichtlich des Stils und der künstlerischen Konzeption verglichen werden. Der
Schöpfer dieses Werkes, Gano di Fazio, ist der uns einzig bekannte Vertreter
einer erfolgreichen künstlerischen Produktion, welche in Siena zwischen zwei
Jahrhunderten aufkam.
Unterhalb der Decke des Zentralraums ist ein fragmentarisches
Fresko von 1340 zu sehen, das eine beeindruckende Darstellung des „Jüngsten
Gerichts" zeigt . Dies ist ein ungewöhnliches Thema in der
bildhaften Tradition Sienas. Entdeckt bei Restaurierungsarbeiten nach dem Krieg,
ist es als eine Arbeit aus dem Kreis von Simone Martini identifiziert worden,
Die erhaltenen Figuren - nicht von besonderer Qualität - scheinen sich im Stil
direkt von Simone und seiner Werkstätte herzuleiten, so im sanften Chiaroscuro
und im Farbton, welcher die Figuren delikat und leuchtend erscheinen läßt.
Auch die Verwendung eines Aufdrucks für den Schmuck des Heiligenscheins, dessen
Spuren noch leicht sichtbar sind, wurde fast ausschließlich von Simone Martini
und seinem Kreis benutzt.
Die Apsis der Kapelle im linken Querschiff ist verziert mit
Freskos, die sich in einem mittelmäßigen Zustand der Erhaltung befinden. Es
sind die vier Evangelisten mit ihren Symbolen zu sehen, an den Seiten der
Fensternischen der Verkündigungsengel sowie die Jungfrau. Diese
Schmuckgestaltung läßt sich auf den Ersten Meister von Lecceto zurückführen.
Vom linken Querschiff führt ein kurzer Durchgang in die
Kirche von Santa Croce.
Der Hauptaltar enthält zwei Ölgemälde: im „Engel der
Verkündigung mit der Jungfrau" von Rutilio Manetti (Siena 1571-1639) sind
die faltenreiche Draperie, der auffällige Farbton auf den Gesichtern sowie das
kalte, bläuliche Licht Merkmale für Manettis späte Schaffensperiode. Oft
wurden Manettis Arbeiten mit vielen Eingriffen seiner Werkstatt vollendet,
deutlich sichtbar in der ungeschickten Ausführung des Schleiers der Jungfrau.
Ein Blick auf „St. Augustinus wäscht die Füße Christi"
in der Kollegiatskirche (von Manetti 15 bis 20 Jahre früher gemalt) verweist
auf die großen Stil- und Qualitätsunterschiede der beiden Werke dieses
Sieneser Malers.
Wieder zurueck in der Hauptkirche, sehen wir an der linken
Wand ein weiteres Grabdenkmal, das von Beltramo Aringhieri,
Konsistorialrechtsanwalt in Rom zwischen dem Ende des 13. und dem Beginn des 14.
Jahrhunderts und Bruder des Bischofs von Cremona Ranieri von Porrina. Beltramo
starb 1313 und das Grabmonument in dieser Kirche - gegenüber des von Tommaso d’
Andrea - bezieht sich auf ihn.
Dieses Grabdenkmal wurde vermutlich im zweiten Jahrzehnt des
14. Jahrhunderts geschaffen. Beltramo del Porrinas Beruf als Jurist wird durch
ein großes Gesetzbuch in seinen Händen angedeutet (Abb. 7). Einer
hartnäckigen Überlieferung zufolge soll das Denkmal ein Werk Gano di Fazios
gewesen sein (der das Denkmal von Bischof Tommaso d’ Andrea auf der anderen
Seite schuf). Jedoch gibt es entscheidende Unterschiede zwischen beiden Arbeiten.
Tommaso d’ Andreas Gruft ist gekennzeichnet durch einen statischen Stil mit
einer Tendenz zu formaler Vereinfachung. Das Porrina-Denkmal dagegen besitzt
eine außergewöhnliche realistische Kraft sowie einen gotischen Naturalismus,
und verweist damit auf Aspekte der nördlichen Kunstplastik oder der
Porträtkunst des 15. Jahrhunderts.
Nachforschungen haben ergeben, daß dieses Denkmal eine
Arbeit des Bildhauers Marco Romano war, einem Künstler von hohem Ansehen,
dessen Virtuosität sich z.B. in der Gestaltung der Gewandfalten sowie der
Haupt- und Barthaare zeigt. Die dramatisch geöffneten ;Münder der zwei
Propheten, welche auf dem Sockelwerk plaziert sind, die Drehung der geneigten
Köpfe: all dies enthüllt eine Form, welche eher von den nordeuropäischen als
den romanischen Bildhauern in der letzten Dekade des 13. Jahrhunderts benutzt
wurde.
Während seiner Amtszeit in Cremona konnte Bischof Ranieri
die künstlerischen Qualitäten von Marco Romano bewundern, als jener an den
Statuen der dortigen Kathedrale arbeitete.
Nach Beltramos Tod brachte der Bischof den Bildhauer Marco
Romano nach Casole in den Feudalsitz seiner Familie und beauftragte ihn mit dem
Ehrendenkmal für den Bruder.
Links daneben findet man ein kürzlich restauriertes Bild,
das die Bekehrung des St. Matthäus zeigt. Dies ist vermutlich eine Arbeit von
Stefano Volpi (Siena 1585-1642), einem Maler, der ab 1620 etwa von Rutilio
Manetti beeinflußt war. Sichtbar ist dies in diesem Bild, wo leuchtender
Farbkontrast und die Sensibilität der bläulichen Farbtöne vorherrschen. Die
Darstellung des heiligen Ereignisses mit der Konfrontation von Engel und Teufel
ist bestimmt von didaktischem Aufbau.
Es folgt weiter links die „Unbefleckte Empfängnis"
mit dem heiligen Martin und Julian, signiert und datiert von Amos Cassioli (Asciano 1832-1891). Dieses gut dokumentierte Gemälde hat eine inhaltliche
Analogie zu dem Bild „Madonna mit dem Heiligen Domenico und Bernhard" von
Antonio Ridolfi, das sich an der gegenüberliegenden Wand befindet. Beide
Gemälde waren zusammen in Auftrag gegeben worden.
Schließlich kommen wir zum Bild „Der Heilige Augustinus
wäscht die Füße von Christi" von Rutilio Manetti.
Wir sehen dort St. Augustinus in der Erscheinung eines Armen,
der bei der Fußwaschung von zwei Mönchen assistiert wird. Im oberen Bildteil
sind Gott, St. Petrus und Maria Magdalena zu sehen.
Rechterhand der Kirche befindet sich ein altes Presbyterium,
welches eine ganze Seite der Piazza della Liberta einnimmt und ein unlängst
restauriertes Kloster enthält. Zu der sehenswerten Ausstattung gehören eine
Reihe von gotischen Bögen an der oberen Westseite.
Uebersetzung aus dem Englischen :
Joachim Lucchesi
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